Wider die Naturvergessenheit

Ein Plädoyer für den ganzheitlichen Blick auf die natürliche und soziale Mitwelt – von Michael Müller

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Die moderne Naturwissenschaft lässt sich seit jeher von der Maxime leiten, an der Natur berechenbar zu machen, was berechnet werden kann. Alles andere wird ausgeblendet.

Bereits der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes vertrat das Konzept einer rein kausalen Naturerklärung, die auf der Basis „einfachster Objekte“ angesiedelt war. Mit seiner analytischen Geometrie lieferte er die Mathematik, die der gesetzlichen Beschreibung seiner Bewertungen dienen sollte.

Komplexität der Naturzusammenhänge

Der naturwissenschaftliche Erkenntnisprozess bestand darin, aus der Komplexität der Naturzusammenhänge jeweils einzelne Ursache- Wirkungs-Ketten herauszulösen, so dass die bestehende Wechselwirkung isoliert verifiziert werden kann, um sie in mathematischen Formeln darzustellen. Die Pioniere der neuzeitlichen Naturwissenschaft – Galilei, Kepler, Newton – haben diese geradezu inquisitorischen Erkenntnisprozesse und die Entsinnlichung im Verhältnis von Mensch und Natur programmatisch vorangetrieben.

Kepler: „Da also die Eigenschaft, geometrisch konstruierbar zu sein, den Größen wesenhaft zukommt, nicht insofern die Figuren dem Urteil der Augen unterworfen werden, […] setzen wir mit vollem Recht die abstrakte Größe als Bestimmungsstück der urbilderhaften harmonischen Proportionen.“ So wird jede sinnliche Erfahrung aus der Naturerkenntnis ausgeklammert, werden Zusammenhänge ausgeblendet.

Die Unterwerfung der Natur

Aus dem theoretischen Diskurs ist längst eine technisch-wissenschaftliche Bemächtigungspraxis der Natur geworden. Sie heißt ja gemeinhin auch nicht Mitwelt, sondern Umwelt. Diese Unterwerfung der Natur hat zu jenen Veränderungen geführt, die wir heute einerseits als technisch-neuzeitlichen Fortschritt preisen, aber andererseits als biosphärische Krise zu spüren bekommen.

Die von Descartes eingeleitete Herrschaftsvision, dass der Mensch mittels naturwissenschaftlicher Erkenntnis zum „Herr und Meister der Natur“ werde, ist in einer zutiefst zweischneidigen Form eingelöst worden. Einerseits ist der Mensch – zumindest zeitweise – zum Sieger über die Natur geworden, andererseits ist er dabei, sich selbst „tot zu siegen“.

Dieser Konflikt hat viel mit der geschilderten Entsinnlichung der Natur und der Ausrichtung auf eine verengte Kausalforschung zu tun. Einst war die Natur das theoretische Objekt der heraufziehenden neuen Wissenschaften, heute ist sie zum praktischen, tatsächlich gestalteten Objekt geworden.

Raubbau des technisch-ökonomischen Fortschritts

Doch anders als gedacht, hat der neuzeitliche Raubbau des technisch-ökonomischen Fortschritts gewaltige Schäden an der Natur und in der Folge an den Menschen selbst angerichtet: Atmosphäre, Grundwasservorkommen und Meere wurden zu Deponien für Treibhausgase, Düngemittel oder Plastikabfälle.

Viele Menschen müssen auch heute noch in total verschmutzten Megastädten leben, viele andere in von Überschwemmungen betroffenen oder ausgedörrten Gebieten. Kriege und Konflikte um die knapper gewordenen Ressourcen sind mittlerweile an der Tagesordnung.

Auch aus diesem Schrecken ist die Forderung nach einem sozial-ökologischen Gestaltungsprozess entstanden. Dieser will die Biosphäre nicht mehr auf Systembausteine reduzieren, sondern versucht sie unter Einschluss der Wechselwirkungen mit den Menschen ganzheitlich zu interpretieren und zu reflektieren. Dabei sind ökonomische Prozesse einzubeziehen, insbesondere die Verselbständigung der freien Märkte.

Nachhaltigkeit im Anthropozän

Die Überlebensfähigkeit des Menschen und der Natur setzt die Überwindung der Naturvergessenheit durch eine ganzheitliche und gleichberechtigte Sichtweise der sozialen und ökologischen Mitwelt voraus. Das ist auch die Idee der Nachhaltigkeit, die stets fragt, ob das, was wir heute tun, auf Dauer verträglich ist mit der Lebensfähigkeit des Menschen und der Natur.

Wir müssen vorausschauend Lebensfähigkeit gewährleisten und nicht Schäden erst zulassen und nachträglich versuchen, sie zu reparieren. Dazu gibt es in der heutigen Erdepoche des Anthropozäns, also der vom Menschen gemachten Welt, keine Alternative.

Die menschliche Macht über die Natur ist seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts noch einmal enorm gewachsen, nun muss er auch die zugleich gewachsene Verantwortung wahrnehmen.

Michael Müller
Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands

(Dieses Plädoyer ist zuerst erschienen in NATURFREUNDiN 4-24).