Rede von Michael Müller zum 30. Bundeskongress der NaturFreunde Deutschlands
Liebe NaturFreunde, liebe Gäste,
liebe Genossinnen und Genossen,
ich bitte um Verständnis, dass ich nicht auf alle wichtigen Themen eingehen kann. Das soll keine Vernachlässigung der nichtgenannten Themen sein. Im Gegenteil: Es ist gut, dass NaturFreunde sehr gut klettern, dass sie das gerne machen, dass sie wandern, dass sie Sport treiben, dass sie Musik machen. Aber wir machen das alle vor einem historischen Entwicklungsprozess, vor einem historischen Verständnis. Das ist die Idee der Befreiung des Menschen und der Natur.
Das heißt, wir haben von Anfang an gegen die Ausbeutung der Natur und des Menschen gekämpft. Das war für uns immer eine Einheit. Ich glaube, dass diese Frage heute wieder eine große Bedeutung gewinnt. Dazu möchte ich etwas sagen, vorweg aber einen Hinweis geben. Die Fragen, die ich jetzt nicht anspreche, können wir im Zusammenhang mit den Anträgen intensiver behandeln. Unser Antragspaket kann sich sehen lassen. Danke dafür. Ich hoffe, wir werden bei einer fairen Behandlung gemeinsam erreichen, dass wir den Verband stärken.
Das Alte funktioniert immer weniger, das Neue muss erst erkämpft werden
Aber mein Punkt ist vor allem ein anderer. Der Kongress findet in einer Zeit statt, die wie selten zuvor von politischen Herausforderungen aufgeladen ist. Aber es ist auch eine Zeit, die gleichzeitig unglaublich politisch entleert ist. Es ist gleichzeitig Entpolitisierung und Politisierung, und es kommt auf die Akteure an, wie wir damit umgehen.
Aus unserer Sicht findet heute erneut eine große Transformation statt. Entscheidend aber ist, dass wir, was ich befürchte, erst in Zukunft begreifen, was heute passiert, dass wir also in einem Prozess sind, dessen Tragweite wir in der Art des schnellen Regimes, das heute alle bestimmt, viel zu wenig durchdringen und erfassen.
Aus meiner Sicht erleben wir heute erneut das Aufeinanderprallen von zwei gesellschaftlichen Epochen: Das alte nationalstaatliche wachstumsorientierte Modell trifft auf eine globale Welt der totalen Entgrenzung von Zeit und Raum, in der sich die sozialen Ungleichheiten zuspitzen und vor allem ökologische Grenzen deutlich werden, und zwar ökologische Grenzen, die essentiell sind.
Das letzte Mal haben wir ein solches Aufeinanderprallen am Anfang des letzten Jahrhunderts erlebt, damals im Kern die noch feudalistischen Strukturen gegen die zweite industrielle Revolution mit all ihren enormen Umbrüchen, also der wahnsinnigen Verstädterung, dem Bau der großen Fabriken, dem Aufstieg beispielsweise auch Deutschlands zur Industriemacht.
Damals kam es durch das doppelte politische Versagen, einerseits dadurch, dass das liberale Bürgertum nicht das Bündnis mit der Arbeiterbewegung gesucht hat, und andererseits dadurch, dass auch die Arbeiterbewegung in sich zerstritten war, zum Beginn der Jahrhundertkatastrophe, die faktisch zum 30-jährigen Krieg des 20. Jahrhunderts in Europa führte: zwei Weltkriege, Faschismus, Ausrottung des europäischen Judentums, vor allem befeuert durch die schreckliche Ideologie der Volksgemeinschaft.
50 Prozent der heutigen Umweltzerstörungen gehen auf die letzten 40 Jahre zurück
Nach 1945 kam es dann zur sozialen Pazifizierung durch die Ausrichtung auf die Idee zur sozialen Demokratie, getragen durch ein expansives wirtschaftliches Wachstum und, was wir auch nicht vergessen dürfen, durch eine massive Inanspruchnahme der natürlichen Ressourcen. Wenn man ein historisches Bild macht, dann wird man feststellen, dass mehr als 50 Prozent der heutigen Umweltzerstörungen auf die letzten 40 Jahre zurückgehen. Da wird deutlich, was eigentlich passiert ist.
Dieser Weg geht schrittweise seit Ende der 70er-Jahre zu Ende, seit es also den Aufstieg der Geldpolitik und des Neoliberalismus gegeben hat. Seitdem ist es zum globalen Finanzkapitalismus gekommen. Deshalb muss man feststellen, dass wir heute in einer Zeit sind, in der das Alte immer weniger funktioniert, das Neue aber erst erkämpft werden muss.
Die Zusammenhänge verstehen
Und genau, weil vieles unklar ist, weil wir die Tragweite der Veränderung zu wenig begreifen oder insgesamt gesellschaftlich und politisch zu wenig verarbeitet ist, stimmt wohl die These, die übrigens auch im sozialdemokratischen Grundsatzprogramm steht: Das 21. Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert neuer Gewalt und erbitterter Verteilungskämpfe oder es wird ein Jahrhundert der sozialen Gerechtigkeit und ökologischen Verträglichkeit. Ich bin davon überzeugt: Diese Herausforderung werden wir nur bewältigen können, wenn wir erstens heute alles tun, um den sozialen Zusammenhalt zu sichern, zweitens die Demokratie stärken, und drittens von den ökologischen Grenzen des Wachstums ausgehen.
Es gibt ein erfolgreiches Theaterstück, was in Stuttgart und in Berlin gespielt wird. Es heißt „Das Himbeerreich“. Es spielt in der 32. Etage der Hauptverwaltung der Deutschen Bank in Frankfurt. Quasi sinnbildlich für die Entwicklung des Finanzkapitalismus fahren immer gläserne Aufzüge rauf und runter. Und darin ist eine Szene, in der der Spekulant Gottfried Kastein gefragt, wie es überhaupt zu dieser Finanzkrise kommen konnte. Er erklärt das mit Finanzgier, Machtinteressen, sagt dann aber: „Das Entscheidende ist, dass wir heute unfähig sind, Zusammenhänge zu begreifen.“ Kastein weiter: „Wir sind nicht politisch, denn politisch sein heißt, Geschichte verstehen und Zusammenhänge begreifen.“
In diesem Sinne sage ich: Die NaturFreunde sind ein politischer Verband. Wir haben eine Geschichte und wir versuchen, Zusammenhänge zu begreifen. Deshalb ist es auch gut, dass die NaturFreunde in der Ökologiedebatte, in Migrationsfragen und auch in der Friedenspolitik wichtige Rollen einnehmen.
Ich möchte an dieser Stelle, und es wäre schön, wenn ihr das auch unterstützen würdet, meinen besonderen Dank an Uwe Hiksch aussprechen, der in den letzten drei Jahren viel bei der Organisation und Vorbereitung entsprechender Kundgebungen und Demonstrationen für uns geleistet hat.
Vernetzung mit anderen Organisationen
Die Umweltbewegung hat gezeigt, dass wir zusammen mit anderen Organisationen zu großen Veranstaltungen fähig sind. Beispielsweise die Demonstration vor eineinhalb Jahren in Berlin gegen die Freihandelsabkommen. Von mehr als 250.000 Teilnehmenden zu sprechen, war kein Fake. Das war so. Schon nach kurzer Zeit musste die Polizei die Friedrich-Ebert-Brücke öffnen, weil die Reinhardtstraße die Menge nicht mehr gefasst hat. Und wenn die Reinhardtstraße überläuft, dann sind das schon 150.000 Menschen, und wir hatten nicht mal ein Viertel der Demonstration begonnen. Also insofern ist es schon enorm, wie viele Menschen in unserer Gesellschaft bereit sind, sich zu engagieren.
Das Entscheidende aber ist, dass das Engagement nicht gebündelt ist und im Wesentlichen eher auf der Basis unterschiedlicher Einzelpositionen aufbaut, nicht aber auf einer gesellschaftlichen Reformstrategie. Deshalb ist es wichtig, dass es Organisationen wie die NaturFreunde gibt, aber auch andere, die versuchen, daraus eine Gesamtstrategie zu machen.
Denn es reicht nicht, Demonstrationen durchzuführen. Was wir brauchen, ist eine Reformbewegung. Und das ist mehr. Claude Levi Strauss hat für eine krisenhafte Aufladung der Gesellschaft das Bild der Dampfmaschine gebraucht, in der ein heißer und ein kalter Pol immer mehr aneinander geraten und eine Explosion möglich wird.
Ökonomische und ökologische Doppelkrise
Ich freue mich besonders, dass Klaus Dörre hier ist, neben all unseren anderen Gästen, besonders natürlich Franz [Müntefering]. Danke. Klaus Dörre hat anknüpfend an Burkart Lutz, der das großartige Werk „Der kurze Traum von der immerwährenden Prosperität“ geschrieben hat, die Theorie der kapitalistischen Landnahme, ihrer Dynamik, ihrer Treiber und ihrer Grenzen entwickelt. Wichtige Impulse kommen vor allem von Hannah Arendt und Rosa Luxemburg.
Das Wichtige an dieser Theorie ist, dass Klaus Dörre darin die ökonomische und ökologische Doppelkrise beschreibt, sie also nicht reduziert auf ein einzelnes Krisenphänomen. Und tatsächlich ist es so, dass wir heute einen spekulativ aufgeblähten Finanzkapitalismus mit seinen wachsenden Ungleichheiten und Instabilitäten in einem engen Zusammenhang sehen müssen mit der ökologischen Krise. Es wird keine Lösung geben, wenn man entweder nur das eine oder das andere sieht. Entscheidend ist, beides zusammenzuführen.
Auf der einen Seite heißt das, wir müssen entschieden dem Neoliberalismus und der Austeritätspolitik, die Europa spaltet, entgegen treten, und andererseits müssen wir begreifen, dass eine Fortsetzung dessen, was wir heute treiben, in die ökologische Selbstvernichtung führt, wie es Siegfried Lenz bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gesagt hat.
Neue Antworten sind gefordert
Beides gehört zusammen, die soziale und die ökologische Gerechtigkeit und der Umbau des Wirtschaftsmodells. Das bedeutet aber auch, und das ist die eigentliche wichtige Erkenntnis: Ein Zurück zu den alten Antworten kann es nicht geben. Wir müssen neue finden. Ich will das mit drei wesentlichen Punkten begründen.
Erstens: Unser Freund Paul Crutzen, mit dem ich insbesondere in Klimafragen lange Zeit intensiv zusammengearbeitet habe, hat 2002 den Aufsatz „Die Geologie der Menschheit“ veröffentlicht. Darin schreibt er, dass unsere heutige Erdepoche, die Epoche des Holozäns, also der gemäßigten Warmzeit, die seit etwa 12.000 Jahren herrscht, vorbei sei.
Neue Dimension der Verantwortung des Menschen
Wir sind eingetreten in eine neue Erdepoche, in die Erdepoche der Menschen, des Anthropozän, der Menschenzeit. Der Mensch ist zum stärksten Treiber der Natur aufgestiegen. Und er macht das fest am Klimawandel, aber eben auch am Ressourcenabbau und den Änderungen, die auf Jahrtausende unsere Erde prägen werden.
In dieser besiegten Natur, so jedenfalls Crutzen, ist der Mensch nicht nur der Hauptverursacher, sondern er hat eine bis dahin nicht dagewesene Verantwortung. Denn nur der Mensch kann die ökologische Selbstvernichtung verhindern. Das wird nur zu erreichen sein, wenn nicht am Markt das Profitinteresse, sondern der Mensch selbst die Entwicklung wieder bestimmt.
Das Überschreiten planetarischer Grenzen im Anthropozän
Der zweite Punkt, der auf der Theorie des Anthropozän aufbaut, betrifft die planetaren Grenzen: Im Jahre 2009 hat eine Wissenschaftlergruppe um den schwedischen Forscher Johan Rockström in der Erdsystemforschung die planetaren Grenzen der Erde, die für das Leben entscheidend sind, untersucht. Diese Arbeitsgruppe hat die Erde in neun Dimensionen eingeteilt. Acht davon sind bisher untersucht worden.
Das Ergebnis ist, dass die Menschheit in vier dieser globalen Grenzen, nämlich bei der Biodiversität, dem Klimawandel, der Landnutzung und dem Stickstoffkreislauf, die Grenzen bereits überschritten hat. In anderen Bereichen, wie beispielsweise bei der Meeresverschmutzung und der Süßwasserversorgung, sind wir kurz davor. Mit anderen Worten: Die Menschheit hat das Zukunftskapital unglaublich ausgezehrt und belastet zukünftige Generationen in unverantwortlicher Weise.
Der dritte Punkt, warum wir nicht zurückkehren, ist der Ökologische Fußabdruck: Im letzten Jahr haben wir in der zweiten Hälfte des Juli den Punkt erreicht, wo die Menschheit die biologische Jahreskapazität verbraucht hat und die Reserven in Anspruch nimmt.
Das heißt: Wir überschreiten in der Zwischenzeit um den Faktor 7 das, was die Erde jahresmäßig an biologischer Kapazität zur Verfügung stellt. In Deutschland ist es das 4,6-Fache. München, Berlin und Hamburg alleine nutzen eine biologische Kapazität, die eigentlich der gesamten Fläche der Bundesrepublik zur Verfügung steht. Auch hier ein unglaubliches Überschreiten biologischer Grenzen. Den Höhepunkt weltweit bildet übrigens Katar mit dem Faktor 11,7. Aber in der Regel liegen die ärmsten Regionen der Welt natürlich deutlich darunter.
Tatsache ist, dass diese ökologischen Krisen alle bekannt sind. Tatsache ist aber auch, dass seit einiger Zeit die Umweltpolitik an realer Bedeutung verliert. Der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln wird immer größer.
Kampf gegen den Klimawandel
Wir haben jetzt, und ich will das auch gar nicht kleinreden, die Pariser Klimakonferenz als einen Fortschritt zu feiern. Trotzdem muss ich darauf hinweisen: Was real in Paris verhandelt wurde, war nur Selbstverpflichtung, die jetzt schon nicht mehr eingehalten wird, weil es in Amerika einen neuen Präsidenten gibt, der davon nichts wissen will. Aber selbst würde sie eingehalten, würde die Erwärmung je nach Wahrscheinlichkeitsrechnung bei 2,7 bis 3,2 Grad globaler Erwärmung enden.
Wir haben im Deutschen Bundestag 1990 den Beschluss gefasst, dass wir alles tun müssen, die Erwärmung bei 1,5 Grad zu begrenzen und damals auch entsprechende Vorschläge gemacht, wie das zu erreichen ist. Um klar zu machen: Selbst eine Erwärmung von 2 Grad bedeutet, dass wir einen Teil der Welt schon abschreiben.
Ich will nur ein Beispiel nennen: Eine Erwärmung um 2 Grad bedeutet, dass in Afrika die Wüstenbildung um etwa 43 Prozent zunimmt. Was das bedeutet für die Ernährungslage, kann man sich kaum ausmalen. Was das bedeutet für die Migrationsbewegung, das können wir uns inzwischen ausmalen. Ich will hier ein ähnliches Beispiel nennen für die globalen Sustainable-Development-Ziele der Vereinten Nationen. Auch hier haben wir weltweite Beschlüsse, bei denen wir uns fragen, wer fängt an, sie umzusetzen.
Ich will vier Gründe nennen, die für mich entscheidend sind. Erstens: Früher gab es in der Umweltzerstörung in erster Linie örtlich oder regional begrenzte Schädigungen. Die Schädigungen haben auf einmal eine andere Bedeutung und eine andere Größenordnung, denn sie betreffen ganze Kontinente, die Meeressysteme oder die ganze Erde insgesamt. Wir scheinen überwältigt zu sein von der Größe der Aufgabe. Auf jeden Fall ist klar, mit dem Bestehenden können wir diese Aufgabe nicht erreichen.
Der zweite wesentliche Punkt ist aus meiner Sicht die Zeitverzögerung. Die Ursachen eines Klimawandels und seiner Auswirkung haben eine Anpassungsfrist von etwa vier bis fünf Jahrzehnten. Das, heißt: Was nach 1970 geschehen ist, können wir schon nicht mehr verändern. Es wird sich im Klimasystem auswirken. Das einzige, was mir machen können, ist eine Verlangsamung zu erreichen, beispielsweise durch großflächige Waldansiedlungen. Aber verhindern können wir es nicht mehr.
Dritter Punkt: Die Folgen beispielsweise der Erderwärmung sind auf tragisch ungerechte Weise auf soziale Schichten und Regionen verteilt. Die Hauptgeschädigten sind vor allem diejenigen, die am wenigsten dazu beitragen und in der Regel die ärmsten sind.
Viertens: Veränderungen sind natürlich ein Angriff, ein berechtigter Angriff, auf die Verteilung von Macht, Herrschaft und Wohlstand. Insofern versuchen vor allem Mächtige, den Klimaschutz zu verhindern. Unsere Antwort darauf ist: Es wird keinen Frieden auf der Welt geben in hochgeschützten grünen Oasen, wenn gleichzeitig die Welt in ein ökologisches Chaos gerät.
Soziale und ökologische Gerechtigkeit miteinander verbinden
Und besonders macht mir Sorgen, welche absehbaren Synergien auf uns zu kommen, das heißt die Verbindung von Klimawandel, Wasserknappheit – ich erinnere daran, dass wir seit 2008 den Höhepunkt der Ölförderung erreicht haben, seit dieser Zeit stehen wir auf einem Plateau, eine weitere Steigerung war nicht möglich, was die internationale Energieagentur bestätigt –, der nachholenden Industrialisierung und das Bevölkerungswachstum. Das alles erfordert mehr Verantwortung des Menschen und eine Gesellschaftsstrategie, die soziale und ökologische Gerechtigkeit miteinander verbindet.
Vor dem Hintergrund habe ich beispielsweise wenig Verständnis, dass in der Europäischen Kommission unter Juncker im engeren Bereich niemand für Umwelt und Nachhaltigkeit zuständig ist. Wenn Europa ein eigenes Profil braucht, und das braucht es, wenn es in der Globalisierung eine Rolle spielen will, dann sind gerade diese Themen wie sozial-ökologische Reformpolitik und Nachhaltigkeit die europäischen Herausforderungen. Sie werden leider in Brüssel kaum behandelt. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, dass wir auch hier in Deutschland unseren Standort bestimmen und Klarheit finden.
Aktiv in die Debatte über die Friedens- und Entspannungspolitik
Die NaturFreunde haben wichtige Anstöße gegeben. Wir haben beispielsweise in der Umweltbewegung die Postwachstumsdebatte initiiert, die Debatte über Transformation. Wir haben die Zeitschrift movum angestoßen und wir müssen uns auch wieder verstärkt der Friedens- und Entspannungspolitik widmen.
Das, was da jetzt passiert entlang der 1.300 Kilometer langen Grenzen zwischen der EU, Weißrussland und Russland, ist ein gefährliches Säbelrasseln auf beiden Seiten. Allein in den letzten 12 Monaten hat sich die Zahl der Militärübungen verfünffacht. Immer häufiger finden sogenannte Notfallübungen statt. Das sind militärische Übungen, die nicht angekündigt werden müssen. Überall wird mehr Militär stationiert.
Das alles hat wenig mit der Friedens- und Entspannungspolitik zu tun, die wir fortsetzen müssen. Das wird in der Zukunft noch eine andere Dimension bekommen, wenn der Druck auch auf Deutschland größer wird. Es gibt im eigenen Land genug Menschen, die finden es richtig, dass wir den Militärhaushalt auf 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erhöhen wollen/müssen. Das sind ungefähr 22 Milliarden Euro mehr.
Wenn das gleichzeitig vor dem Hintergrund der schwarzen Null debattiert wird, kann sich jeder ausrechnen, zu wessen Lasten das gehen wird. Hier bauen sich Konflikte auf, und ich kann nur sagen, wir müssen wieder aktiv rein in die Debatte über die Friedens- und Entspannungspolitik.
Transformation als Zukunftsvision
Das Wichtigste, was wir in der Vergangenheit erreicht haben, war aus meiner Sicht der Beginn der Transformationsdebatte zusammen mit der EKD und dem DGB. Ich weiß, es gibt unterschiedliche Interpretationen von Transformation. Ich hab das schon angesprochen. Einmal wird unter Transformation vor allem das verstanden, was in den früheren RGW-Ländern passiert ist, also Transformationsgesellschaften. Dann hat der wissenschaftliche Beirat für globale Umweltfragen Transformation definiert als eine Zukunftsvision.
Aber es gibt vor allem, und ich bleibe bei dieser Definition, die aus dem Werk von Karl Polanyi, der die Transformation beschrieben hat als Entbettung der Ökonomie aus gemeinschaftlichen Bindungen und einem Prozess, den er als Marktgesellschaft bezeichnet hat, die über Demokratie und Soziales Dominanz gewinnt.
Polanyi schreibt, dass daraus immer eine Gegenbewegung entsteht. Das erleben wir heute. Offen ist natürlich, das zeigt auch die Geschichte, ob diese Gegenbewegung sozialreformerisch oder reaktionär ist. In der Geschichte gab es beides. Wir haben auf der einen Seite den New Deal zum Wohlfahrtsstaat 1933 in den USA erlebt. Wir haben aber auch den Faschismus in Deutschland, Italien, also in Europa, als Gegenbewegung erlebt.
Derzeit wird das einfach als Populismus abgetan. Ich halte das für falsch. Der Wahlsieger in Holland hat in seiner Reaktion auf das Wahlergebnis ziemlich klar gemacht, dass das nicht trägt. Er hat davon gesprochen, in Holland hätte sich gezeigt, dass es guten und schlechten Populismus gibt. Herr Rutte meint, er hätte den guten Populismus vertreten, und Geert Wilders den schlechten. Ich halte beides für Quatsch. Es geht darum, anständige Politik zu machen.
Auf jeden Fall gibt es in Deutschland heute die überwiegende Reaktion, jedenfalls in weiten Teilen, in größeren Teilen, als ich mir das habe vorstellen können, offene oder latente Fremdenfeindlichkeit. Diese wird quasi zur Folie, wodurch rechtsextreme Gruppen ins bürgerliche Lager hinein kommen und dadurch Grundpfeiler der Demokratie gefährdet werden. Ich habe mir aber auch nicht vorstellen können, dass in den USA ein ignoranter Präsident gewählt werden könnte, der tagtäglich alle Befürchtungen übertrifft, der wie ein Stammtischpolitiker mit abartigen Fernsehauftritten und verantwortungsloser Twitterei Politik macht.
Aber es ist so. Ebenso ist es so, dass ein Klimaleugner Präsident der Amerikanischen Umweltbehörde ist, dass ein Fast-Food-Manager, der in den USA vor allem für seine flexiblen und schlecht bezahlten Arbeitsplätze bekannt ist, Arbeitsminister geworden ist. Und ich hab mir auch nicht vorstellen können, dass ein rechtsextremer Ideologe Chefberater im Weißen Haus werden kann.
Wir müssen die Politik stärken
All das ist möglich, und deshalb mache ich mir auch in Deutschland darüber Sorgen, dass es ein wachsendes Netzwerk der Rechten in Zeitungen und Zeitschriften gibt, in Medien wie Compact und Sezession, in Musik wie Kategorie C und Stahlgewitter, in Parteien und Bewegungen wie AfD und Identitäre Bewegung. Das nimmt zu.
Entsetzt bin ich auch darüber, dass beispielsweise rund 1.000 Angriffe auf Asylunterkünfte in den beiden letzten Jahren stattgefunden haben, davon jährlich fast 100 als Brandstiftungen oder Sprengstoffdelikte, wie es kriminaltechnisch heißt.
Ich halte es für viel zu verkürzt, dies als postfaktisch zu bezeichnen oder als Aufstand der Wutbürger. Genauso wenig halte ich von dem inflationär und inhaltslos gewordenen Begriff des Populismus oder der Identität als politische Frames, die angeblich das Denken bei uns bestimmen.
Ich sage, umso mehr brauchen wir politische Organisationen, die zurückkehren zur Aufklärung und Vernunft und die endlich auch gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und das als das bezeichnen, was es ist, nämlich verantwortungslose rechte Schmiererei. Dennoch müssen wir das ernst nehmen.
Faktisch fühlen sich in unserem Lande viele Menschen abgehängt. Wir haben in den 80/90er-Jahren die Debatte über die Zweidrittel-Gesellschaft gehabt. Es darf jetzt nicht passieren, dass wir ein zweites Drittel verlieren. Das würde die Demokratie nicht verkraften. Wir müssen die Politik stärken. Ich finde, das ist keine Frage, die man gegen Parteien richten kann.
Es ist natürlich eine Entscheidung von jedem einzelnen, ob er in eine Gewerkschaft oder in eine Partei geht. Aber wenn ihr in die Parteien geht, und dazu kann ich euch nur ermutigen, dann geht rein, um für eine Position zu kämpfen, nämlich für die Idee der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit und für mehr Demokratie. Das ist es, was wir brauchen.
Für einen fairen Freihandel
Lasst mich abschließend ein paar Punkte nennen, wo wir unsere Schwerpunkte in diesem Zusammenhang sehen. Ihr wisst, wir haben eine zentrale Rolle bei den Auseinandersetzungen um die Freihandelsabkommen. Mich ärgert es sehr, wenn behauptet wird, in Deutschland ist man gegen den Freihandel genauso wie Trump in den USA. Pardon, das ist Unsinn. Unser zentrales Motiv, sich gegen die Freihandelsabkommen einzusetzen, war die enorme Steigerung ökonomischer Machtkonzentration, die Kritik an Marktgesellschaften, die Ausgrenzung der Dritten Welt in diesen Verträgen und das Kleinschreiben von sozialen und ökologischen Zielen.
Zusammengefasst:Wir wollen die Zukunft nicht den Unternehmen überlassen, sondern die Demokratie stärken. Das war unser Motiv. Und wir bedauern, dass viele nicht begriffen haben, dass die Auseinandersetzung um TTIP auch der Versuch ist, die Politik zu verändern, die in den letzten 30 Jahren Europa und die Welt geprägt hat.
Den Energieumsatz reduzieren
Zweiter Punkt: Wir werden uns weiter intensiv einsetzen bei der Frage der Energiewende. Die ist beispielgebend für den sozialökologischen Transformationsprozess. Aber die Energiewende, so wichtig sie ist, zeigt Folgendes: Erstens wird die Energiewende im Augenblick reduziert auf die erneuerbaren Energien. Das ist wichtig und gut. Aber Energiewende bedeutet genauso, den Energieumsatz drastisch zu reduzieren.
Wenn man sich ansieht, dass wir in Deutschland beispielsweise ein ungenutztes Einsparpotenzial von ungefähr 40 bis 45 Prozent haben, dann ist das nicht nur ökologisch sinnvoll, das zu nutzen, sondern schafft auch Möglichkeiten für neue sinnvolle zukunftsträchtige Arbeitsplätze.
Ich sage hier in diesem Zusammenhang, wenn wir über Industrie 4.0 reden, dann sollten wir nicht nur über die Digitalisierung reden, sondern auch über ein ökologisch effizientes Wirtschaftssystem. Das passiert leider noch zu wenig.
Sozial gerechte Energiewende
Zweitens wird entscheidend bei der Energiewende sein, auch das zeigt die Debatte, dass sie sozial gerecht organisiert wird. Bei der Energiewende, wie wir sie im Augenblick erleben, werden vielfach die Kosten auf die Verbraucher abgeschoben. Das ist nicht in Ordnung.
Ich streite nicht ab, dass Unternehmen wie RWE oder E.ON in Schwierigkeiten kommen. Aber sie haben die Zeichen der Zeit verschlafen. Sie haben die Energiewende lange Zeit nicht ernst genommen beziehungsweise blockiert. Auch das ist unternehmerische Verantwortung: zu begreifen, dass die alten Formen vorbei sind.
Ökologie und Stadtentwicklung zusammenbringen
Ich möchte noch einen dritten Punkt nennen, der mir wichtig ist. Wir müssen das Thema Stadt und Ökologie wieder stärker ins Zentrum rücken. Ich bin davon überzeugt, dass die Stadt das Gegengewicht zur Globalisierung ist. In den Städten ist der republikanische Geist entstanden. In den Städten sind wir in der Lage, sozusagen ein Experimentierfeld für sozialökologische Zukunftsprojekte zu entwickeln.
Heute stehen wir vor der Entscheidung, ob die Städte entweder zu verödeten Zentren werden, zu einer einzigen Kommerzialisierung, die den Investorenmodellen überlassen werden, oder ob wir die europäische Stadt in ihrer Vielfalt und Wirklichkeit bewahren. Es ist nicht klar, wie das ausgeht. Ich will an dieser Stelle klar sagen, dass ich es bedaure, dass das Umweltministerium in Berlin nicht mehr gemacht hat, um Ökologie und Stadtentwicklung zusammenzubringen. Da hätte mehr erreicht werden können. Also auch hier eine Geschichte, die von strategischer Bedeutung ist.
Insgesamt erleben wir, dass die Umweltbewegung im Augenblick dabei ist, sich sehr viel stärker sozialen Fragen zu öffnen. Hierin liegt eine große Chance. Kai, dem ich noch einmal herzlich gratuliere zu seiner Wahl als Präsident des Deutschen Naturschutzrings, einer Organisation, die, wenn es gut geht, 10 Millionen Mitglieder erreichen kann, ist einer von denen, die eine Neuorientierung oder eine weitergehende Orientierung bei den Umweltverbänden vorantreibt. Ich finde das gut, ich finde das richtig.
Ich bin auch froh, dass unser Schweizer Freund Urs Wüthrich-Pelloli da ist. Wir verfolgen mit großem Interesse, welche Auseinandersetzung um das Wirtschaftsprogramm der SPD in der Schweiz stattfindet, in der Forderungen auftauchen, die wir der Schweiz nicht zugetraut hätten.
Beispielsweise die Forderungen, dass die Öffentliche Hand Boden kaufen soll, um ein Gegengewicht zur privaten Spekulation zu bilden, oder dass mehr Mitarbeiter in Aufsichtsgremien kommen, mehr Kontrolle der Banken vorgesehen ist und so weiter. Die Diskussionen finden wir von außen sehr spannend. Mal sehen, was daraus wird. Auf jeden Fall ist es richtig, denn wir wollen wieder politischer werden.
Bundesamt für Naturschutz sieht NS-Ideologen als Vorreiter des Naturschutzes
Ich darf drei abschließende Bemerkungen machen. Die Erste beginnt mit einem Dank an Hans-Gerd Marian. In der Zeitschrift „Natur und Landschaft“ des Bundesamtes für Naturschutz, also einer Institution, die dem Bundesumweltministerium unterstellt ist, war in Heft 9/10–2016 ein Artikel zu lesen unter der Überschrift „Die Verwissenschaftlichung der Öko-Debatte“. Gemeint ist die Entstehungsgeschichte der Ökologie-Bewegung in Deutschland.
Gesagt wird darin, dass zwischen 1933 und 1945 die hohe Zeit des Naturschutzes gewesen sei. Genannt werden als die Hauptmatadoren dieser Entwicklung Alwin Seifert und Fritz Todt. Alwin Seifert war ein solcher Reaktionär, dass selbst Hitler Schwierigkeiten hatte, ihn in der NSDAP zu behalten. Fritz Todt war Namensgeber der Operation Todt, die in der Spitze zuständig war für 435.000 Zwangsarbeiter, für gefangene Soldaten und für Juden, die vor allem militärische Anlagen gebaut haben. Diese beiden waren angeblich die wesentlichen Treiber der Ökologisierung der Debatte in Deutschland.
Hans-Gerd hat einen Brief geschrieben und gesagt, als Vertreter einer Organisation, von denen viele Mitglieder im KZ waren und dort gestorben sind, kann er eine solche Interpretation keinesfalls teilen. Ich will diese Position unterstreichen und einen Satz vortragen, der unter anderem als Begründung des Reichsnaturschutzgesetzes von 1935 gilt: „Deutscher Heimatschutz ist die Eugenik der Kultur. Damit gilt es, das Volkstum gesund zu halten. Eine deutsche Natur ist die Natur des arischen Mannes.“
Das soll Naturschutz sein? Dann habe ich mit Naturschutz nichts zu tun. Das sage ich ganz klar. Nein, das ist Blut- und Bodenideologie und nicht Naturschutz. Es ist ein Skandal, dass eine Bundesbehörde einen solchen Unsinn schreibt.
Zuletzt will ich allen danken, dem Bundesvorstand, den Landesvorständen, den Fachgruppen, natürlich den Ortsgruppen und natürlich dem Büro. Jeder von ihnen leistet viel. Ich danke besonders meinen Stellvertretern: Kai, Regina und Tilmann. Ich danke auch Rolf Mantowski, der aus Krankheitsgründen leider nicht hier sein kann. Ich bedaure das sehr. Ich danke Uwe Hiksch, Eckart Kuhlwein, Petra Müller, Harald Peschken, Wolfgang Spindler. Allen herzlichen Dank. Danke der Jugend, Sascha Böhm und Dennis Melsa. Stellvertretend für das Büro danke ich Hans-Gerd und Bernd. Herzlichen Dank.
Lasst mich schließen mit einem Satz von Karl Barth. Der sagte: „In einem Meer von Unsinn brauchen wir eine Insel der Vernunft.“ Lasst uns diese Insel sein.
Michael Müller
Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands
Rede beim 30. Bundeskongress in Nürnberg (als MP3 auch hier)