Der Sport der Gesellschaft

Ein Gastbeitrag über die sozialen Funktionen des Breitensports von Dr. David Jaitner (Sporthochschule Köln)

In Deutschland gibt es mehr als 90.000 Turn- und Sportvereine mit etwa 27 Millionen Mitgliedern. Unzählige weitere Menschen sind in informellen Bewegungskulturen oder kommerziellen Einrichtungen aktiv, etwa in Fitnessstudios, beim Skateboarden oder in Wandergruppen.

Hinzu kommt: Auch Sportsendungen oder Stadionbesuche, also die passive Rezeption von sportlichen Ereignissen, prägen maßgeblich die Gesellschaft, sowohl in der alltäglichen Kommunikation als auch durch ihre starke mediale Präsenz.

Der Sport ist also groß und breit untergliedert. Das weist ihn als einen wichtigen Teilbereich der modernen differenzierten Gesellschaft aus. Gesellschaftstheoretisch lassen sich diese Teilbereiche durch je eigene Funktionen voneinander abgrenzen. Die Politik der Gesellschaft zum Beispiel beschäftigt sich mit der Frage, ob Macht vergrößert werden kann. Die Erziehung der Gesellschaft will Fähigkeiten von Menschen entwickeln.

Beim Sport der Gesellschaft ist das jedoch nicht so eindeutig sagbar. Denn seine Funktion ist gleichzeitig nach innen und nach außen gerichtet. Und genau deshalb wird wissenschaftlich über den sportlichen Kern auch trefflich gestritten.

Körperliche Leistungsfähigkeit mitteilen
Jede sportliche Handlung, ob nun im Leistungs-, Breiten- oder Freizeitsport, hat einerseits zwingend einen unverwechselbaren sportlichen Nenner. Beim Wettkampfsport ist das zum Beispiel: mit geregelten körperlichen Anstrengungen Siege zu erringen.

Über den Wettkampfsport hinaus gedacht und etwas weiter gefasst, kann das sein: sich selbst oder anderen körperliche Leistungsfähigkeiten mitzuteilen. Dieses Verständnis schließt damit weitere sportliche Bewegungsanlässe wie sozial motivierte Sportinitiativen ein.

Obwohl der Sport dabei seine Regeln und Erfolgskriterien eigenständig festsetzt, ist andererseits allerdings unklar, inwieweit er tatsächlich ein eigenständiger Teilbereich der Gesellschaft ist – und nicht etwa eine speziell ausgehandelte Ausprägung von anderen Bereichen. Das hat historische Gründe.

Die Ausdifferenzierung des heutigen Sportbereichs beginnt Anfang des 19. Jahrhunderts, als körperliche Aktivität eine attraktive Zielscheibe für Leistungserwartungen aus anderen gesellschaftlichen Teilbereichen wird.

Mit der Aufklärungspädagogik treten hier körperbezogene Ideale wie Gesundheit oder die Vollkommenheit des Menschen erstmals prominent in Erscheinung. Jahn begründet um 1810 die politische Turnbewegung. Spieß etabliert in den 1840er-Jahren das Schulturnen. Immer wieder geht es dann auch um die Erziehung von ordnungsstarken Untertanen oder die Stärkung der Wehrkraft, was unter den Nationalsozialisten ab den 1930er-Jahren einen unrühmlichen Höhepunkt findet.

Förderung gegen Nutzenversprechen
Aktuell sind eher wirtschaftliche Produktivität, Unterhaltung, Prävention gegen Volkskrankheiten oder soziale Integrationsleistungen en vogue. Dass Sportsysteme gleichzeitig eigenständig und abhängig sind, prägt den Charakter des Sports bis heute.

Augenfällig ist dies insbesondere im organisierten Sport. Dieser ist mit guten Gründen und traditionell in Vereinen organisiert, in dieser Formgebung jedoch rechtlich jedweder gewerbsmäßigen Leistungserstellung oder staatlichen Steuerung enthoben.

Um also die notwendigen Ressourcen in Milliardenhöhe und letztlich den eigenen Bestand zu sichern, ist der organisierte Sport auf Förderungen angewiesen. Die gibt es aber eben nur, wenn auch andere gesellschaftlicher Teilbereiche einen Nutzen davon haben.

Der organisierte Sport hat deshalb eine ganze Palette von Versprechen im Angebot. Sportvereine leisten wertvolle Beiträge zur Sozialisation, binden gesellschaftlich benachteiligte Randgruppen ein, erziehen zu "Fair Play", begünstigen die Persönlichkeitsentwicklung, wirken präventiv gegen Gewalt, erhalten die Gesundheit, mehren das Gemeinwohl und wollen sogar Schulen der Demokratie sein.

Wissenschaftlich muss man das differenzierter betrachten. Oft lassen sich entsprechende Ansprüche tatsächlich nachweisen. Andere stehen noch infrage.

Einige Entwicklungen aber konterkarieren sogar den Gemeinwohlanspruch des organisierten Sports, weil sie entschieden der förderungswürdigen Integrität des Sports widersprechen. Das sind zum Beispiel die bekannteren Probleme wie Doping, Spielmanipulationen oder Zuschauerausschreitungen, aber auch weniger thematisierte wie rigide Führungsstile, egomanische Vorbilder, abgegrenzte ethnische Vereinsinseln, fragliche Körperkonzepte oder große ökologische Schäden durch Großereignisse.

Welchen Sport der Gesellschaft wollen wir?
Dass das wissenschaftliche Gesamtbild derart unentschieden ist, verwundert wenig, wenn man gesellschaftstheoretisch argumentiert: Sportlich zu erfüllende Leistungserwartungen sind stets an den Anspruch gebunden, körperliche Leistungsfähigkeiten mitzuteilen, sonst wären sie kein Sport mehr. Mit dieser Form sind nun manche sozialen Ansprüche besser, manche weniger gut und manche beinahe unmöglich vereinbar.

Was dann allerdings immer übrig bleibt und der Verantwortung des Menschen obliegt, ist die weitreichende Frage, welchen Sport der Gesellschaft wir eigentlich praktisch wollen. Und das ist ob der gesellschaftlichen Reichweite des Sports und der aktuellen Entwicklung sportlicher Grundwerte keine Kleinigkeit.

Dr. David Jaitner
forscht an der Sporthochschule Köln unter anderem zu sozialen Funktionen von Sport in unterschiedlichen Settings. Jaitner promovierte über „Sportvereine als Schulen der Demokratie?“ – mit einem sehr bewusst gesetzten Fragezeichen.